Donnerstag, 12. April 2007

Fri, 8 Dec, 9:30 - 032

Liebe Tina,

danke für dein gschwindes Briefchen! Ich fragte mich schon öfter, wie du das schafft, vom Arbeitsplatz aus so einfach längere - und auch konzentriert erscheinende - Mails zu verfassen.

Noch etwas zu Shirin : sie ist die einzige, die ich aus dem vorigen Semester kenne. Sie nervt mich tatsächlich, ich war eine Weile ziemlich böse auf sie, das heißt: ich habe sie einfach ignoriert bzw. wieder gesiezt. Ich mag es auch in diesem Bereich nicht, wenn ich nur den verständnisvollen Motivator abgeben soll. Es ärgert michl, wenn geistlose Dinge mit leicht vorhersehbaren Folgen vor meinen Augen geschehen.

Shirin zum Beispiel hat sich von ihrem Mann - ihrem Cousin! - im Sommer mit Zustimmung der Eltern getrennt und lebt jetzt bei einer Freundin, einer Medizinstudentin, in einer sehr ruhigen Wohnung. Sie behauptet aber, sie könne sich dort nicht konzentrieren und strawanzt entweder durch die Stadt oder setzt sich in die Bibliothek. Dort vertieft sie sich in persische Psychologiebücher, nicht in deutsche, was an einer hiesigen Uni wohl sinnvoll wäre.

In diesem Semester habe ich mit 12 Männern und 8 Frauen beruflich zu tun. Einige Männer wollen hauptsächlich cool erscheinen, vor ihren Kollegen. Vor denen geben sie häufig mit abschätzigen Bemerkungen über die anwesenden Frauen an, wollen so mit demonstrativer Frauenverachtung (wer nicht "schön" ist, existiert für sie nicht) ihren Tribut an die Männerbündelei leisten. Lässig sind sie auch im Umgang mit Wissenserwerb, was bedeutet, daß Faulheit und Nichtwissen mehr zählen als Aufmerksamkeit, Interesse und Fleiß.

In diesem nicht sehr großen Raum, in dem ich mit ihnen arbeiten muß, sind oft tiefe Gräben zu bemerken, und der Hauptgraben trennt die Geschlechter. Das ist für mich eine völlig neue Erfahrung. In den letzten Jahren hatte ich zwar auch Probleme mit dem Verständnis für das Verhalten einiger Männer, doch gab es unter ihnen immer wieder - nicht nur von der Erscheinung her - bewundernswerte Menschen, auch solche mit besonderen Fähigkeiten, die sie auch in der Gruppe in Form von Solidarität, Hilfsbereitschaft, Aufmerksamkeit und Wißbegier zeigten.

Es gibt aber eine Person, die besondere Destruktivität ausstrahlt, Dragan, ein bosnischer Serbe, 23 oder 24 Jahre alt. Er hat sich von Anfang an auf seine Kriegserfahrungen berufen. Ich habe gleich am Anfang Verständnis ausgedrückt, ihm jedoch klar gemacht, daß ich seit Kriegsbeginn mit Menschen aus Ex-Jugoslawien konfrontiert gewesen bin, mit einem Journalisten mit Bauchschüssen, mit Frauen, die den Massakern in Brcko entkommen sind, mit Serben aus Novi Sad, mit Albanern aus dem Kosovo und Makedonien usw.

Dragan wollte immer Englisch mit mir reden; doch darauf bin ich nicht eingestiegen. Ich habe versucht, ihn dazu zu bringen, ein Tagebuch zu schreiben, damit er seinen Erinnerungen, Schmerzen, Konfrontationen dort und hier zumindest schriftlich Ausdruck geben kann. Er hat das zwar versprochen, doch dabei ists geblieben.

Ich denke, er sucht den Autoritätskonflikt. Ich kann das nicht völlig ignorieren, schon der Gruppe zuliebe nicht. Aber es macht mir keinen Spaß. Normalerweise läuft ein Vor- oder Nachmittag sehr abwechslungsreich und vor allem mit Humor und Gelächter und Wärme ab. Dragan und einige andere Männer torpedieren das oft, weil sie ihre eigenen ungelösten Konflikte in die Gruppe tragen müssen.

Junge Männer sind auch meine vier Söhne, sehr verschieden, aufgrund ihrer Mütter und des mütterlichen Umfelds. Außerdem sind sie fünf Jahre auseinander.

Früher war hauptsächlich ich die Verbindungsperson zwischen den beiden; seitdem der jüngere auch studiert, sind sie einander nähergekommen. Da sie seit vorigen Herbst in derselben Firma arbeiten, sehen sie einander mehrmals wöchentlich. Beide verdienen sich jetzt selbst Geld, allerdings mit dem Unterschied, daß der ältere doppelt so viel arbeitet und so viel verdient wie ein mittlerer Angestellter, während sich die Einkünfte des jüngeren auf EUR 300,- pro Monat beschränken.

Trotz des grauen Einheitsbreis am Himmel muß ich jetzt hinaus: zuerst einmal ins Fitneßstudio.

Alles Liebe
ALEX
logo

tina und alex

User Status

Du bist nicht angemeldet.

Aktuelle Beiträge

Thu, 6 Jan, 11:55 - 068
Mein lieber Alex! Du hast mir wieder ein Lächeln entlockt....
michaela1 - 17. Februar, 12:37
Wed, 5 Jan, 18:59 - 067
Liebe Tina, IMMER heißt natürlich nicht immer, sondern...
michaela1 - 3. Februar, 15:54
Wed, 5 Jan, 08:34 - 066
Servus Alex! Gleich in der Früh von Dir ein ausführliches...
michaela1 - 3. Februar, 15:44
Tue, 4 Jan, 15:50 - 065
Liebe Tina, 1. Schade, daß aus den Silvesterbriefen...
michaela1 - 28. Januar, 18:04
Tue, 3 Jan, 11:19 - 064
Lieber Alex! Wieder nur am Unterbrechen!!! Aber, stell...
michaela1 - 16. Januar, 11:15

Links

Archiv

April 2007
Mo
Di
Mi
Do
Fr
Sa
So
 
 
 
 
 
 
 1 
 5 
 8 
10
11
13
18
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
 
 
 
 
 
 
 

Free Text (1)

Free Text (2)

tina.tempo (AT) gmx.at

kostenloser Counter

Mein Lesestoff

wolfgang koeppen
eine unglückliche liebe

yasmina khadra
nacht über algier

alfred andersch
die kirschen der freiheit

Carlos Ruiz Zafon
Der Schatten des Windes

Wladimir Kaminer
Mein Leben im Schrebergarten

Suche

 

Status

Online seit 6794 Tagen
Zuletzt aktualisiert: 17. Februar, 12:43

Credits


Profil
Abmelden
Weblog abonnieren